Psychologische Sicherheit
Teil II – Die Konsequenzen von psychologischer Unsicherheit
von Claude R. Schmutz
LIF Präsident
Die Konsequenzen psychologischer Unsicherheit sind dramatisch. Sie sind ein Hauptgrund für das Leiden in dieser Welt.
Über die Konsequenzen der psychologischen Unsicherheit bei Machthabern informieren uns täglich die Medien. Diese Leiden (Verfolgung bzw. Unterdrückung von Bevölkerungsgruppen, Gefangenschaft, Folter, Krieg, Ruin der Wirtschaft, Zerstörung der Umwelt u.a.) sind nicht einfach eine allgemeine Entwicklung, sondern die Folgen von Entscheidungen einzelner Mächtiger – unterstützt und oft gefördert von ihren Anhängern.
Die Gründe dieser Destruktion sind persönlicher Natur. Dahinter stehen die Charaktere und Geschichten solcher Machthaber. Aus meiner Wahrnehmung zum Beispiel:
- Bei Putin Vertrauensverlust und Angst vor Bedeutungslosigkeit
- Bei Erdogan die Angst durch den Verlust seiner Macht zurück in die Armut und Bedeutungslosigkeit seiner Kindheit zu fallen
- Trump ist ein Schrei nach Bedeutung. Es ist für Donald Trump offensichtlich unmöglich, in irgendeiner Form als Versager oder als Verlierer zu gelten
Dahinter stehen bei jedem dieser Mächtigen ihre Kindheitsgeschichten, insbesondere die Geschichten mit ihren Vätern. Das ist natürlich in keiner Weise eine Entschuldigung für ihre Entscheidungen, aber ein Teil der Erklärung.
Diesen und vielen anderen einflussreichen Menschen ist gemeinsam, dass ihre Entscheidungen durch psychologische Unsicherheit gesteuert sind – mit katastrophalen Folgen für die Menschen, für die sie verantwortlich sind.
Wir beobachten ähnliche Verhaltensmuster bei Mächtigen in anderen Bereichen, z.B. in der Wirtschaft. In diesem Zusammenhang ist die Frage interessant, warum in sehr vielen Fällen ausgerechnet Menschen an die Spitze ihrer Einflussbereiche gelangen, die sich offensichtlich durch markante psychologische Unsicherheit „auszeichnen“. Dabei ist zu beachten dass der Auftritt und das Reden solcher Menschen kein Kriterium für den Grad ihrer psychologischen Sicherheit ist.
Denn Macht und Autorität ausüben zu können gibt eine vermeintliche Sicherheit und überdeckt die Schwäche des Charakters und die Unsicherheit der Seele. Das Klammern der Mächtigen an ihre Macht kann ein Zeichen dafür sein, dass sie dieses Problem instinktiv selber erkennen und Angst vor dem Verlust vermeintlicher Sicherheit haben.
Hinter jedem dieser Mächtigen stehen ihre Kindheitsgeschichten, insbesondere die Geschichten mit ihren Vätern.
Nun: Wir müssen nicht auf die Stufe der Mächtigen dieser Welt gehen, um zu beobachten, dass psychologische Unsicherheit zu Leiden führt – auch zu Leiden in unseren eigenen Verantwortungsbereichen und Beziehungen.
Ich nenne ein paar typische Beispiele, wie ein Mangel an psychologischer Sicherheit unsere Beziehungen belastet:
Die Wahrheit reden
Der Grad unserer psychologischen Sicherheit manifestiert sich im Umgang mit der Wahrheit. Haben Sie auch schon einmal das Gefühl gehabt, dass eine Person, die Sie für einen Anlass oder zum Besuch einladen wollten, mit ihrem Argument, die Einladung abzulehnen, wohl nicht wirklich die Wahrheit geredet hat? Hat Ihnen eine eingeladene Person jemals gesagt, dass sie keine Lust hat die Einladung anzunehmen? Haben Sie das selbst schon jemals einer Person gesagt? Eben! Was ist der Grund dass wir nicht einfach die Wahrheit sagen?
Menschenfurcht
Menschenfurcht äussert sich wie oben erwähnt dadurch, dass wir oft nicht wahrhaftig sind. Sie äußert sich aber auch dadurch, dass wir nicht Nein sagen können aus Angst, das Gegenüber zu enttäuschen oder zu verärgern, und als Folge davon nicht anerkannt bzw. nicht „geliebt“ zu werden. Menschenfurcht geht auf Kosten der eigenen Gesundheit und betrifft negativ auch die Menschen, von denen wir sagen, dass wir sie lieben – weil wir Dritten, die uns oft gar nicht gut bekannt sind (z.B. Kunden) aus obigen Gründen den Vorzug geben.
Psychologische Unsicherheit in der Ehe
Psychologische Unsicherheit manifestiert sich in der Ehe typischerweise durch:
- Angst vor riskanten Gesprächen mit dem Ehepartner, also von Gesprächen, in denen das Risiko besteht, dass der Ehepartner nicht dieselbe Ansicht vertritt wie ich selber; z.B. der Geldanlage, beim Kauf eines Autos; der Einrichtung des Gartens usw.
- Angst aufgrund des Gefühls der Hilflosigkeit, sich auf seelische oder physische Probleme des Ehepartners einzulassen. Die in solchen Situationen bekannte Reaktion auf das Gefühl der Hilflosigkeit ist oft: „ Das ist nicht so schlimm!“ „Das geht wieder vorbei!“
- Bei älteren Ehepartnern: Angst, das Thema Sterben und Tod anzusprechen. Als Folge davon vermeiden die Ehepartner das Gespräch über diese Themen, aber auch sich und ihre erwachsenen Kinder mithilfe der entsprechenden Dokumente wie Patientenverfügung, Vorsorgeauftrag und Erbschaftsvertrag rechtzeitig zu entlasten
Ich lade den Leser und die Leserin ein, sich weitere Gedanken über erlebte Situationen von psychologischer Unsicherheit in ihrem familiären Umfeld zu machen.
Character is, when no one sees – Charakter ist das, was hervorbricht, wenn es niemand sieht!
Psychologische Unsicherheit im Chef-Mitarbeiterverhältnis:
- Der Chef hat zu wenig Zeit für die formellen oder informellen Mitarbeitergespräche. Das Argument „Keine Zeit haben“ ist in diesem Fall eine billige Ausrede, da der gleiche Chef unter anderen Umständen ja gerne betont, dass das Wichtigste die Mitarbeiter seien. Dahinter steckt oft die Angst, in Anstand und Respekt für den Mitarbeiter die Wahrheit über seine Leistung auszudrücken, das heisst eventuell Kritik anbringen zu müssen.
- Eine traurige und erbärmliche Manifestation im Geschäftsleben ist die Kündigung eines Mitarbeiters durch Mail oder SMS. Das ist ein Ausdruck der Angst des Chefs, diese Botschaft von Angesicht zu Angesicht mitzuteilen.
- Umgekehrt ist es auch Ausdruck der psychologischen Unsicherheit des Mitarbeiters, wenn dieser Angst hat, seinen Chef auf unangenehme Angelegenheiten hinzuweisen, die aus der Sicht des Mitarbeiters für die Firma relevant sind.
Diese Situationen sind auch hier nur ein kleiner Ausschnitt aus vielen anderen, die Sie sicher selbst schon erlebt haben – als Chef oder Mitarbeiter.
Mir fällt auf, dass das Merkmal der psychologischen Unsicherheit oft mit den Begriffen Angst und Hilflosigkeit verbunden ist.
Wenn eine Person im Rahmen eines strukturierten und von ihr vermeintlich kontrollierten Umfeldes nach außen sicher auftritt, ist das noch keine Aussage über ihre psychologische Sicherheit oder seelische Reife. Von Os Guinness stammt die Aussage „Character is when no one sees“.
Charakter ist also das, was hervorbricht, wenn es niemand sieht. Es ist nicht zufällig, dass die schwierigste aller Beziehungen die Ehebeziehung ist, weil der Ehepartner wohl die einzige Person ist, die etwas mehr vom wahren Charakter sieht und erlebt als alle Anderen.
Im nächsten Teil werde ich darauf eingehen, wie psychologische Sicherheit zugunsten unserer Beziehungen und Verantwortungsbereiche gefördert werden kann:
- Was zeichnet psychologische Sicherheit aus?
- Psychologische Sicherheit fördern durch Verhaltensveränderung
- Das Grundproblem der psychologischen Unsicherheit und dessen Überwindung
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