Die Abzocker – und wir…?

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Abzocker sind auch nur Menschen
Jahreseinkommen von über 15 Millionen Euro, ja über 20 Millionen Euro! Die Bekanntgabe löst in den Medien wie bei den Normalverdienern eine moralische Entrüstungswelle aus. Begriffe wie ungerecht, unmoralisch, obszön werden gebraucht, um die Entrüstung zu verbalisieren.

Was bedeutet darum der Bezug im Titel zu mir, dem Leser, zu uns sogenannten Normalverdienern? Trotz der im Vergleich zur großen Mehrheit der Weltbevölkerung wesentlich höheren Einkommen bewegen wir uns nicht in jener Kategorie und so betrifft das damit verbundene moralische Problem uns ja nicht!

Ist das wirklich so? Ohne diese Einkommen in irgendeiner Weise rechtfertigen zu wollen (im Gegenteil), behaupte ich, dass sich auf der hohen Ebene der Abzocker eigentlich keine anderen Mechanismen abspielen als auf jeder anderen gesellschaftlichen Ebene, und dass wir darum mit unserem moralischen Entsetzen etwas vorsichtig sein müssen. Denn hinter dem Problem stecken die uns allen bekannten Aspekte „vermeintliche Gerechtigkeit“, „Anerkennungssucht“ und „Habgier“.

 

Auf der hohen Ebene der Abzocker spielen sich keine anderen Mechanismen ab als auf jeder anderen gesellschaftlichen Ebene…

 

Zum Aspekt Vermeintliche Gerechtigkeit:
Ich hatte während meiner vielen Jahre als Vorgesetzter von Mitarbeitern nie den Fall, dass ein Mitarbeiter „aus Gerechtigkeit“ auf eine eventuell hohe Lohnerhöhung verzichtete, weil ein Kollege eine weniger hohe Lohnerhöhung erhielt. Umgekehrt aber hatte ich unzählige Fälle, wo Mitarbeiter wegen des im Vergleich zu anderen Mitarbeitern effektiv oder vermeintlich tieferen Einkommens Druck für eine Erhöhung machten, weil sie sich – aus ihrer Sicht – ungerecht behandelt fühlten.

Bei Präsidenten und CEOs global tätiger Firmen spielt sich auf internationaler Ebene derselbe Mechanismus des (eben nur horizontalen!) Vergleichens und damit der vermeintlichen Gerechtigkeit ab, mit dem einzigen Unterschied, dass sich die Schraube auf jenem Niveau offensichtlich leichter nach oben drehen lässt als bei Mitarbeitern auf den unteren Stufen.

Zum Aspekt Anerkennungssucht:
Führungskräfte, die so viel Energie zum Erzielen von Leistung und Resultat einsetzen, sprechen die Sprache der Liebe, das heißt sie suchen Anerkennung. Wertschätzung ist ihr Antreiber, weil sie sich durch erbrachte Leistung und der damit verbundenen Anerkennung geliebt fühlen; und um diese zu erhalten, sprengen sie übliche Grenzen. Deshalb geht es den „Abzockern“ nicht (nur) um die absolute Höhe des Geldbetrags, sondern vor allem um ihre Position auf der weltweiten Rangliste der höchsten Einkommen. Diese Liste ist wie eine Beförderungsliste normalsterblicher Führungskräfte. Auch diesbezüglich habe ich – mit Ausnahme eines Falles – keinen Mitarbeiter erlebt, der eine Beförderung, also eine Verbesserung auf der Rangliste und die damit verbundene Anerkennung, ausgeschlagen hätte.

Zum Aspekt Habgier:
Habgier in offener oder versteckter Form, das heißt die Angst, zu kurz zu kommen, ist ein starker Antreiber mit oft negativen Verhaltensfolgen. Damit verbunden ist Egoismus, Selbstzentriertheit, Kälte. Es ist die Haltung des Anspruchs. Habgier ist nicht eine Frage des sozialen Niveaus, sondern eine menschliche Ausprägung, immer verbunden mit Angst.

Interessant ist, dass die Höhe des verfügbaren Einkommens und des Vermögens keinen oder kaum Einfluss auf die Habgier hat. In der Beziehung sind Präsidenten und CEOs großer Firmen darum nicht anders als andere Menschen. Das Thema Habgier spielt sich einfach auf höherem Niveau ab.

Diese provozierende Einleitung zum Thema Integrität soll darstellen, dass sich ethisches und moralisches Verhalten nicht durch die Stufe auf der Karriereleiter definiert, sondern ein allgemeines, menschliches Thema ist. Offensichtlich ist, dass sich in der Regel negatives, aber auch positives Verhalten im einzelnen Fall umso sichtbarer manifestiert, je höher die Führungskraft auf jener Leiter steht.

 

Positives wie negatives ethisches Verhalten manifestiert sich umso sichtbarer, je höher die Führungskraft positioniert ist

 

Die Studie von Price Waterhouse Coopers „Economic Crime Survey“ belegt, dass sich die Herausforderung von korrektem ethischem und moralischem Verhalten nicht auf die Spitzen der Unternehmungen beschränkt, sondern alle mit Verantwortung, Macht und Entscheidungskompetenz ausgestatteten Mitglieder des Management betrifft. Die Studie kommt zum Schluss, dass die Fälle und Schäden für Firmen als Folge von Betrug und Korruption trotz weiterem Ausbau der Kontrollsysteme nicht zurückgegangen sind.

Von der Gefahr des Abdriftens
Wir müssen uns die Frage stellen, was – in ihren jüngeren Jahren doch mehrheitlich unbescholtene – Menschen im Lauf ihrer Karriere schleichend oder plötzlich zu korrumpierbaren Führungspersonen macht. Dabei geht es nicht nur um kriminelle Handlungen, sondern um ein Verhalten, das sich ethisch und moralisch zunehmend in die Grauzone hinein bewegt – also das Aufgeben der persönlichen Integrität; oder anders ausgedrückt: um die Zuschüttung unseres Gewissens.

Die Realität auch des Wirtschaftsumfeldes zeigt, dass der Mensch mehrheitlich nicht fähig ist, den Verlockungen nach Anerkennung und Habgier strikt zu widerstehen. Wir müssen erkennen, dass die Kombination unserer inneren Antreiber – der Drang nach Anerkennung; Liebe durch Leistung; der tiefste Wunsch, auf der Grube unseres unerfüllten Herzens unser Hochhaus zu bauen und eben Habgier – mit dem enormen Druck des Wirtschaftsumfelds eine riesige Gefahr des bewussten oder unbewussten Abdriftens in die Grauzone, ja sogar Schwarzzone birgt. Dieser Druck entsteht durch Konkurrenzkampf nach außen und innen, durch die Angst, zu versagen; die Stelle zu verlieren; einfach zu kurz zu kommen.

 

Die Realität zeigt, dass der Mensch nicht fähig ist, den Verlockungen nach Anerkennung und Habgier zu widerstehen

 

Der Wirtschaftsanwalt und Verwaltungsrat mehrerer Konzerne, Dr. Peter Böckli, sagte einmal, dass Führungskräfte eine unglaubliche, bewundernswerte innere Kraft haben, vorwärts zu gehen und Ziele zu erreichen; dass darin aber eine große Gefahr bestehe, die Grenzen nicht zu erkennen, ja nicht erkennen zu wollen. Dieser Kraft und den dahinter stehenden Antreibern opfern wir unsere Ehe, unsere Familie, unsere Gesundheit, unsere Geradlinigkeit, und damit im weitesten Sinn unsere ursprünglichen moralischen Vorstellungen. Wir werden korrumpierbar und damit erpressbar – anders ausgedrückt: Wir werden unfrei!

Wir sollten mit dieser Sicht von Korruption also nicht voller Entrüstung mit dem Zeigefinger auf Länder hinweisen, wo System und Machtinhaber korrupt sind, also ihre formelle Macht zum Eigennutz missbrauchen – die Herausforderung beginnt bei mir und meinem Umfeld, für das ich verantwortlich bin.

Es ist möglich, die Gefahr zu bannen
Als Dozent in einer Klasse eines MBA Kurses mit schon erfolgreichen Unternehmern sowie höheren Angestellten stellte ich den Studierenden die Frage, wem sie grundsätzlich Rechenschaft abgeben müssten. Nach längerem Schweigen antworteten sie: „Ich mir selber!“ Ich wünschte ihnen dazu viel Glück und erklärte ihnen aufgrund eigener Erfahrungen auch den Grund für meine Antwort.

Ich habe durch Beobachtung und eigene Erlebnisse erkennen müssen, dass der Mensch aus sich heraus nicht fähig ist, die Grenzen einzuhalten (dies ist auf der Autobahn bezüglich Einhaltung der Geschwindigkeit ziemlich deutlich sichtbar!). Auf dieselbe Tatsache weist auch Paulus in der Bibel hin. Er selber, der zur Elite der religiösen Juden gezählt hatte, muss zugeben, dass er es nicht geschafft hat, die Gesetze einzuhalten. Er schreibt im Brief an die Gemeinde in Rom in harter, aber ehrlicher Selbstanalyse: „Ich weiß wohl, dass in mir nichts Gutes wohnt… Ich will immer wieder Gutes tun und tue doch das Schlechte; ich verabscheue das Böse, aber ich tue es dennoch.“ Vergessen wir nicht: Paulus war kein Krimineller gewesen, sondern ein hochgeachteter, gebildeter und eifriger Pharisäer.

Dann aber folgt sein entscheidender Ausruf: „Gott sei Dank! Durch Jesus Christus bin ich bereits befreit“. Das Evangelium, also die „gute Botschaft“, weist auf zwei wunderbare Aspekte eines durch die persönliche Christus-Beziehung veränderten Lebens hin. Erstens, dass durch dieses Eintreten in eine persönliche Beziehung mit Jesus Christus uns alle früheren Verfehlungen vergeben sind. Durch das Erkennen (wollen) und Bekennen der eigenen Schuld wird ein Neubeginn und eine fundamentale Veränderung des eigenen Lebens möglich. Zweitens können wir durch diese Beziehung in eine neue Dimension der persönlichen Freiheit und damit zu innerem Frieden gelangen. Paulus beschreibt also eine grundsätzliche Veränderung unseres Herzens (=unserer Persönlichkeit), die wiederum die Ausgangslage dafür bildet, nicht mehr (so stark) von den weiter oben beschriebenen inneren Treibern in Richtung Grauzone gedrängt zu werden. Der Lösungsweg, den der christliche Glaube liefert, setzt also direkt dort an, wo nachhaltige Veränderung einzig geschehen kann: im Kern unserer Persönlichkeit. Diese innere Transformation wirkt dann nach außen in unser Denken, Reden und Tun – die Art, wie wir kommunizieren und führen.

Dass der Versuch, ein solches Leben in unserem Wirtschaftsumfeld oder sogar in einem korrupten System zu leben, nicht einfach ist, ist offensichtlich. Aber auf diese Herausforderung lässt sich eine gute Führungskraft ein. Das bedeutet nicht ein einfaches Leben und schon gar nicht ein fehlerfreies Leben, aber es bedeutet ein spannendes Leben – und ein Leben mit tiefem inneren Frieden und in der größtmöglichen Freiheit.

 

Claude R. Schmutz, Gründer und Präsident von LIF, langjährige Karriere in hohen internationalen Führungspositionen. Claude gilt als profunder Kenner der Wirtschaftswelt und deren Arbeitsumfeld.