Der Aufstieg zum Erfolg – ohne Steigeisen
Noch vor Tagesanbruch verließ unsere Seilschaft an jenem frühen Morgen die SAC Hütte am Fuß des Finsteraarhorns. Am vorherigen Tag waren wir sechs Stunden vom Jungfraujoch über den Aletschgletscher und Nebengletscher über Schnee und Eis zur SAC Hütte marschiert. Unser Ziel war der mit knapp 4300 Metern höchste und neben der Eiger Nordwand markanteste Berg des Alpenmassivs des Berner Oberlands.
Nach dem Aufstieg im Morgengrauen über den langen und steilen, schneebedeckten Gletscher an der unteren Flanke des Finsteraarhorns kamen wir im Sattel an, wo wir unsere Rucksäcke, Eispickel und Steigeisen ablegten, denn nun würden wir in den sehr steilen und extrem schmalen Grat des Berges einsteigen. Das Finsteraarhorn steht allein, von weitem sichtbar, und beeindruckt wegen seinem steilen, schmalen Grat, der bis zum Gipfel reicht, und den je eintausend beziehungsweise fünfhundert Metern beidseitig abfallenden Seitenflanken.
Wir wussten, dass das noch gute Wetter früh am Nachmittag umschlagen würde. Gemäß unserer Planung war das kein Problem, denn zu dieser Zeit sollten wir auf dem Abstieg und Rückweg zur Hütte den Grat bereits wieder verlassen haben. Aber etwas war nicht wie geplant verlaufen: Wir waren vielleicht noch hundert Meter vom Gipfel entfernt, als wir von Westen das Unwetter kommen sahen – ein Strich am Himmel: Blauer Himmel, und dann – wie mit dem Messer geschnitten – die riesige, sich in beängstigendem Tempo nähernde, schwarze Front. Es war uns blitzartig bewusst: Wir waren auf dieser Höhe und auf diesem schmalen Grat dem Kommenden völlig ausgesetzt und ausgeliefert.
Wir waren hilflos, auf Gedeih und Verderben diesen gewaltigen Naturmächten ausgeliefert… Der extrem steile Abstieg musste nun – ohne Steigeisen – auf dem mit frischem Schnee bedeckten, nassen Fels erfolgen.
Das Gewitter entlud sich direkt über dem Finsteraarhorn. Es blitzte und donnerte ohne zeitliche Differenz. Der Regen und die wilden Windböen peitschen über den Grat. Wir schmiegten uns so gut wir konnten an den Fels und waren dankbar, die Eispickel im Sattel gelassen zu haben. Wir waren hilflos, auf Gedeih und Verderben diesen gewaltigen Naturmächten ausgeliefert. Dann setzte Schneefall ein. In der Realität war es ein ausgewachsener Schneesturm. Wir wussten, was dies bedeutet: Der extrem steile Abstieg musste nun – ohne Steigeisen – auf dem mit frischem Schnee bedeckten, nassen Fels erfolgen.
Aber ein anderer Gedanke ging mir auch durch den Kopf: „Wir setzen für diese Tour drei Tage ein, mit stundelangen Märschen auf Schnee und Eis und einem langen und mühsamen Aufstieg zum Gipfel, um nun kurz vor dem Gipfelkreuz unser Ziel aufzugeben, erfolglos umzukehren und eingestehen zu müssen, das Ziel verfehlt zu haben. Da wir uns sowieso in diesen schwierigen Verhältnissen würden bewegen müssen, warum nicht doch noch den Aufstieg zu Ende führen? Wir befinden uns ja sowieso in einer hochriskanten, kritischen Situation, da macht dies ja auch keinen Unterschied mehr.“
Das Besteigen des Finsteraarhorns ist eine für einen normalen Bergsteiger große Leistung, auf die er stolz sein kann und darf. Im Sommer ist der Aufstieg zwar eine wunderschöne und sehr attraktive, aber auch eine zeit- und kraftaufwendige, mühsame Tour. Und nun zurück, ohne das Ziel erreicht zu haben?
Es blieb mir nicht mehr viel Zeit für diese Gedanken: Unser Bergführer hatte sich zum Glück entschieden, sofort abzusteigen. Nach einem im Schneesturm sehr langsamen, schwierigen Abstieg erreichten wir erschöpft und über das Erlebte schockiert die Hütte. Beim gemeinsamen Abendessen drehte sich das erregte Gespräch um unser Abenteuer. Erst da begann uns wirklich klar zu werden, wie nahe wir an einer Katastrophe gestanden und wie wir bewahrt worden waren. Die Dankbarkeit begann den Frust über das Nicht-Erreichen unseres Zieles zu verdrängen. Die Professionalität unseres Bergführers hatte über unser Ego, das Ziel – koste es was es wolle – zu erreichen, gesiegt.
Karriere ist etwas Gutes – sie ist gleichzeitig aber auch ein Abenteuer, bei dem wir riskieren, alles andere in unserem Leben wie Beziehungen, Gesundheit, die eigene Psyche zu vernachlässigen und eventuell sogar zu schädigen.
Durch diese und noch andere Erfahrungen mit dem Bergsteigen vergleiche ich gerne das Karrieremachen mit diesem Sport und Abenteuer, denn reflexartig verbinden wir Führungspersonen Erfolg mit steiler Karriere und beruflichem Erfolg. Das war auch in meinem Fall so. Daran ist nichts Schlechtes. Wie viele Phänomene ist auch der Begriff Karriere wertneutral und beinhaltet viele positive Aspekte:
- Karriere bedeutet Weg der beruflichen Entwicklung
- Karriere bedeutet persönlicher Lern- und Erfahrungsprozess
- Karriere beinhaltet die Chance der Verwirklichung von Visionen, Wünschen, Zielen
- Karriere bedeutet, Einfluss auf andere Menschen zu nehmen, voranzugehen, einen Beitrag zur Verbesserung des Lebens auf dieser Erde zu leisten
Es ist aber gleichzeitig ein Abenteuer, das uns über Jahrzehnte enorme Kraft, Energie, Konzentration und Zeit kostet. Ja, ein Abenteuer, bei dem wir riskieren, alles andere in unserem Leben wie Beziehungen, Gesundheit, die eigene Psyche zu vernachlässigen und eventuell sogar zu schädigen.
Viele Kriterien des Bergsteigens gelten auch für das Unternehmen Karriere. Mit einem großen Unterschied: Wir steigen als junge Führungspersonen zwar mit sehr viel Wissen über die Technik ein, aber wir unterlassen es meistens, uns die Gefahren bewusst zu machen – und unser selbst bewusst zu sein. Wie ich es erlebte und immer noch erfahre, wird dieser Aspekt auch heute noch in der sonst so intensiven und breiten Ausbildung zum Manager nicht oder kaum angesprochen.
Als Bergsteiger einen Gipfel zu erklimmen ist mit Risiken verbunden, dessen ist sich der Bergsteiger sehr bewusst. Er unternimmt alles, diese Risiken möglichst einzuschränken. Deswegen nimmt beim Bergsteigen die Planung bei der Vorbereitung der Bergtour oder der Kletterei eine wesentliche Rolle ein: Die Auswahl des zu ersteigenden Gipfels und der Route wird durch das Können, die Erfahrung, die physische und psychische Verfassung, die zur Verfügung stehende Ausrüstung, die Verhältnisse usw. bestimmt. Wenn ein technisch begabter Bergsteiger sich hinreißen lässt, seine körperliche Verfassung, seinen mentalen Zustand und das Risiko seiner Tour oder veränderter Umstände nicht zu berücksichtigen oder falsch einzuschätzen (wie das ja offensichtlich auch bei Bergsteigern immer wieder geschieht), dann wird sein Abenteuer hochriskant und lebensgefährlich.
Es ist mir nicht bewusst, dass ich je darüber informiert wurde, dass mit Erfolg und Karriere auch Gefahren verbunden sind.
Hat dieser Bezug etwas mit dem Thema Integrität zu tun? Ich meine ja und sage dies aus eigener Erfahrung. Meine Ausbildung zum Wirtschaftswissenschafter an der Universität in Bern liegt zwar viele Jahre zurück, aber es keinen Grund anzunehmen, dass sich seitdem in diesem Punkt viel geändert hat. Ich begann meine Karriere als junger Angestellter und bald als junger Manager in einem globalen Konzern. Ich freute mich auf die Herausforderungen und war bereit, alles zu geben, was ich konnte. Es ging mir nicht primär um das Erreichen von Karriere- oder materiellen Zielen. Ich wollte zur Entwicklung der Firma beitragen, so gut ich konnte. Ich wollte verändern und aufbauen. Erst sehr viel später lernte ich meine inneren, versteckten Treiber kennen, die mich zu großem Einsatz und Leistung, aber auch zu den damit verbundenen Ausprägungen und Fehlleistungen verführt hatten.
Es ist mir nicht bewusst, dass ich je darüber informiert wurde, dass mit Erfolg und Karriere auch Gefahren verbunden sind; dass mit dem Höhersteigen am Berg der Wind kälter wird; es zunehmend darum geht, der Erste auf dem Gipfel zu sein; sich in die Annalen des Bergs einschreiben zu lassen, koste es was es wolle! Dass das Adrenalin zu einem kaum mehr kontrollierbaren Treiber, ja zu einer Sucht werden kann; dass der Kampf um den Gipfel je höher man steigt, umso härter wird; dass man schleichend beginnt, mit harten Bandagen um den Gipfel zu kämpfen; und dass wir das Risiko eingehen, dass sich ein Nebel über unseren Aufstieg – unser Gewissen und unsere Vernunft – zu legen beginnt.
Das alles wurde mir nicht gesagt. Es wurde mir auch nicht gesagt, wie ich mich vor diesen Entwicklungen, Risiken und Gefahren schützen könne.
Ich hatte vergleichsweise großen beruflichen Erfolg. Aber ich habe heute eine neue Sicht von Erfolg. Ich spüre es ansatzmäßig in meinem Innersten, was ganzheitlicher Erfolg, was tiefe Erfüllung bedeutet. Ich kann in meinem Alter über einen großen Teil meines Lebens zurückschauen – also „vom Ende her“ schauen. Ich kann dies heute mit großer Dankbarkeit tun.
Und trotzdem verpasste ich leider die Möglichkeit, früh genug vom Ende her zu denken. Dafür zahlte ich einen hohen Preis. Ich hatte Glück. Ich kenne und lese über Viele, die dieses Glück nicht hatten oder haben. Die mit der Finanzkrise und den damit verbundenen persönlichen Demütigungen in Zusammenhang stehenden Selbstmorde und schlimmen Abstürze zum Beispiel von Bankern sind Zeugnis dieser Tatsache. Das Thema hat entscheidend mit Integrität zu tun, darum schreiben wir über dieses Thema.
Ein Leben, das auf Anerkennung anderer und auf materiellen Erfolg baut, dabei aber die Ganzheitlichkeit unseres Lebens und vor allem die echten, tiefen Beziehungen vernachlässigt, ist nicht ein wirklich erfolgreiches Leben.
In „Erfolgsfaktor Integrität“ reden wir über die Vorbereitung und Erfüllung des Abenteuers Karriere; aber nicht nur: Wir reden über das Abenteuer Leben. Über das Leben, auf das wir später einmal gerne und dankbar zurückschauen möchten. So wie es im Buch Hiob in der Bibel am Schluss der spannenden Geschichte über Hiob, nach all seinen materiellen, gesundheitlichen und psychischen Problemen und seiner ganzheitlichen Wiederherstellung steht: „Schließlich starb Hiob in hohem Alter nach einem reichen und erfüllten Leben.“ In einer anderen Übersetzung steht: „…vom Leben gesättigt.“
Ich verstehe heute besser, was mit einem „satten“ Leben gemeint ist. Eines musste ich mit aller Härte erfahren: Ein Leben, das auf Anerkennung anderer und auf materiellen Erfolg baut, dabei aber die Ganzheitlichkeit unseres Lebens und vor allem die echten, tiefen Beziehungen vernachlässigt, ist nicht ein wirklich erfolgreiches Leben. Und eines habe ich gelernt: Irgendwann im Verlauf unseres Lebens holt uns die Sehnsucht nach diesem größeren, weiteren, tieferen Leben ein – ob wir es uns eingestehen wollen oder nicht.
Text: Claude Schmutz
Auszug aus dem Buch „Erfolgsfaktor Integrität“, Seite 27ff
Auszug aus dem Buch „Erfolgsfaktor Integrität“ von Claude Schmutz und Johannes Grassl
Die Ausführungen und Impulse in diesem Buch sind für mich äußerst hilfreich, das Thema Integrität im Spannungsfeld Wirtschaft, Gesellschaft und Glaube noch konsequenter anzugehen und dies auch zu leben. Ein „must have“ für alle, die sich mit verantwortungsvoller Führung beschäftigen.
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